Vor 80 Jahren wollte man sie ermorden, heute spricht Eva Weyl über ihre jüdische Kindheit im Nationalsozialismus – online mit über 200 Schülerinnen und Schülern der Oberstufe:
"Ihr seid nicht Schuld! Doch ihr tragt die Verantwortung für die Zukunft! Handelt nicht nach Befehlen! Handelt immer nach euren Herzen!"

Nicht zum ersten Mal besuchte Eva Weyl die Gustav-Heinemann-Schule. Doch zum ersten Mal spricht sie mit dem 12. und 13. Jahrgang online in einer Videokonferenz. Souverän, aber mitreißend. Leidenschaftlich, aber nicht anklagend. Mahnend und warnend, aber mit Herz berichtet die Tochter jüdischer Eltern ihren Zuhörer*innen, wie es als jüdisches Kind im Nationalsozialismus war.

Das Kaufhaus der Familie in Kleve wurde enteignet, die Unterdrückung der jüdischen Menschen im Deutschland der Dreißiger Jahre wurde immer schlimmer und bedrohlicher. Die Familie Weyl floh in die Niederlande, um vor den Nazis sicher zu sein. Doch die Kindheit eines kleinen Mädchens, das nun in Amsterdam aufwachsen sollte, erfuhr einen plötzlichen Bruch, als die Niederlande überfallen wurde und die jüdische Familie in das Lager Westerbork gesperrt wurde.

Sie mussten teils zu Fuß mehrere Kilometer bei eisiger Kälte, mit nur wenig Hab und Gut, den Weg in das Übergangslager antreten, so wie 107.000 andere Jüdinnen und Juden mit ihnen. Über 100.000 von ihnen wurden weiter in die Konzentrations- und Vernichtungslager geschickt. In Auschwitz wurden sie getötet. Nur 5.000 jüdische Menschen überlebten das „Camp Westerbork“. Der Familie Weyl war großes Glück beschert, dass sie zu den Überlebenden gehörten. Für die Eltern war es eine Zeit voller Ungewissheit und Angst vor dem Tod. Und bei ihnen war das „kleine Evchen“, das im Lager frieren musste und stetig fragte, wann es wieder nach Hause ging. Das Mädchen im Grundschulalter lebte drei Jahre in dem Lager. Und sie sollte getötet werden, wie alle jüdischen Menschen.

Doch Frau Weyl erzählt in ihrem Vortrag keine Geschichte voller Hass. Es ist eine Botschaft voller Herz, Freundschaft und der Bitte, dass die jungen Schülerinnen und Schüler diese Botschaft verstehen und weitertragen. Deswegen appelliert sie, mahnt sie, warnt sie. Aber immer betont sie auch: Ihr seid nicht Schuld! Doch ihr tragt die Verantwortung für die Zukunft! Handelt nicht nach Befehlen! Handelt immer nach euren Herzen!

Frau Weyl spricht auf dem Bildschirm, und ihre Worte wirken lebendig in allen Kursräume, in denen die Schüler*innen des 12. Jahrgangs mit ihren Lehrer*innen sitzen und zuhören. Als Frau Weyl ihren Ring zeigt, dessen Geschichte bis in das Lager zurückgeht, und den sie heute noch trägt, schauen sich zwei Schülerinnen an und weiten ihre Augen. Auch als ein Foto von zwei Frauen eingeblendet wird, sind die Schülerinnen erneut sehr ergriffen: Frau Weyl und die Enkelin des Lagerkommandanten aus Westerbork, Arm in Arm – sie sind heute Freundinnen. Weil sie immer ihrem Herzen gefolgt ist, wiederholt Frau Weyl. Und dies bleibt ihr wichtigster Appell an die Schülerinnen und Schüler, die aufmerksam der Geschichte folgen und von den vielen Momenten ergriffen sind, in denen das ehemalige kleine jüdische Mädchen aus ihrem Leben erzählt, heute im hohen Alter, obwohl die Nazis sie damals umbringen wollten.

Nach dem einstündigen Vortrag bot die Zeitzeugin noch die Gelegenheit, Fragen zu stellen. Einige der Zuschauer*innen wollten sich einfach nur bei ihr bedanken, als erstes Greta, die von zuhause aus zugeschaltet war, wie alle Mitschüler*innen aus dem 13. Jahrgang. Andere stellten Fragen über das weitere Leben von Frau Weyl, wie Johannes. Er wollte erfahren, ob sie nach dem Nationalsozialismus noch Anfeindungen erfahren musste. Frau Weyl versuchte, auf alle Fragen einzugehen und blieb auch nach der vorgesehenen Zeit noch online. Und mit ihr blieben  Schüler*innen in den Kursräumen, die weiter fragen wollten. Der Schulgong hatte längst das Schulende eingeläutet, und auch zuhause an ihren Geräten lauschten viele Schüler*innen des Abiturjahrgangs weiter und stellten weitere Fragen. Als letztes wollte Nadin wissen, wann Frau Weyl ihre Meinung über die Deutschen geändert hatte. Mit ihrem herzlichen Lachen entgegnete Frau Weyl, dass sie einzelnen Menschen nie mit Vorurteilen begegnet sei. Allerdings beschloss sie erst vor kurzem, sich wieder als Bürgerin Deutschlands zu sehen. Was hat sie zu der Entscheidung bewegt? „Es gibt so viele tolle Menschen, Lehrkräfte und Schüler*innen, die sich so sehr bemühen, das Verbrechen der Nazi-Zeit nicht zu vergessen, damit so etwas nie wieder passiert.“ Eine weitere echte Herzensentscheidung, die ein weiteres Mal die Zuschauer*innen sehr bewegte. Während vor 80 Jahren in Deutschland beschlossen wurde, alles jüdische Leben auszulöschen, spricht das damals kleine jüdische Mädchen heute über ihre Freundschaft zu deutschen Schülerinnen und Schülern.
Herzliches Dankeschön! Das wird ewig in uns leben.

Text: Sebastian Kreischer
Bilder: Fabritianum, Krefeld (Portrait Eva Weyl), Sebastian Kreischer (Foto der Videokonferenz)